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Amps, Röhren und Psychologie

Achtung: dies ist eine längere Abhandlung, in der keine Licks oder irgendwas sonst erklärt werden, sondern nur allgemein über Gitarrenverstärker philosophiert wird. Dies ist mein persönlicher Standpunkt, keine allgemeingültige Weisheit - die gibt es bei so einem Thema wie Musik auch gar nicht.

Eines Tages hatte ich ein Gespräch mit einem Kollegen - einem nicht-Gitarristen, aber doch musikalischen (Gesang, Klavier, Orgel, Studium der Kirchenmusik) Menschen - über Gitarrenverstärker. Wie wir drauf gekommen waren, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls gelangte das Gespräch an den Punkt, an den man beim Thema Amps sehr oft kommt, wenn man mit Laien (= nicht-Gitarristen) spricht: wieso eigentlich immer noch Röhren? Besagter Kollege ist ein cleverer Elektroniker und führte die üblichen Nachteile der Röhrentechnik wie mittelmäßige Betriebssicherheit, hohe Wärmeentwicklung und Wartungskosten etc. an. Meine Gegenargumente waren auch die üblichen: besseres Obertonverhalten, harmonischerer Zerrbetrieb, bessere Dynamik etc. All diese Punkte lassen sich "objektiv", das heißt mit entsprechender Meßelektronik, nachvollziehen.

Dann wanderte das Thema in Richtung DSP (= Digital Signal Processing, das, was in jedem digitalen Effektgerät stattfindet). Sein Standpunkt war, daß es doch mit der heutigen Technik möglich sein müßte, all die Vorteile der Röhre digital zu simulieren, und die Nachteile einfach zu umgehen. Klingt verlockend, nicht war? Man nimmt die ausgefeiltesten Meßverfahren, analysiert ein paar Dutzend verschiedene Röhrenschaltungen und simuliert das "Röhren" in einem schlau programmierten DSP. Die digitalen Gitarrenverstärker, die zur Zeit auf den Markt drängen (z.B. die bereits etablierten Line 6 -Teile) werden genau nach diesem Verfahren gefertigt. Die Klangergebnisse dieser Geräte sind inzwischen auch verblüffend gut - wenn ihr es nicht glaubt, dann probiert die Dinger aus.

Nur an einen guten Röhrenamp kommen die "virtuellen Röhren" (wie virtual reality, nicht wahr?) nicht heran. Ein guter Röhrenamp "fühlt sich einfach besser an". Das habe ich dann auch dem Kollegen gesagt. Der hat mich ungläubig angesehen: "'Fühlt sich besser an'? Wie meinst du das denn?"

An diesem Punkt geriet ich ganz schön ins Schwimmen. "Hat mehr Druck" und "Der Sound springt einen mehr an, wenn er aus der Box kommt", und ähnliche Dinge habe ich vor mich hingemurmelt. Nun sind dies völlig subjektive Eindrücke, die sich kaum meßtechnisch belegen lassen. Wenn man als Zuhörer einem digitalen Amp und einem Röhrenamp zuhört, wird man oft kaum einen Unterschied feststellen können - vielleicht im Klangcharakter, aber kaum in der Qualität. Ich finde aber, daß man beim Spielen den Unterschied zwischen einem Röhrenamp und einem Digitalamp noch deutlich spürt. Man kann nicht einmal - mit dem Ohr als Meßgerät - sagen: "Der Amp kratzt" oder "Er ist dumpf" oder was weiß ich.
Er fühlt sich nicht so gut an. Nicht so direkt. Ich bekomme das Gefühl, daß der Amp nicht im gleichen Raum ist, wie ich, daß er nicht so sehr eine direkte Verlängerung meiner Gitarre darstellt. Die Rückkoppelung - nicht das Piepen im Lautsprecher, sondern auf einer anderen Ebene - zwischen Mensch, Gitarre und Amp ist nicht so eng wie beim Röhrenamp. Ich habe das Gefühl, ein Röhrenamp reagiert besser auf das, was ich spiele.

Warum ist das nun so, und was machen die Hersteller von diesen digitalen Wunderkisten falsch?

Nun, ich will mich hier nicht groß über die technischen Beschränkungen der heute möglichen (1999) digitalen Audiotechnik auslassen - sie sind sicherlich da, auch meßbar und nicht nur was für Leute, die das Gras wachsen hören. Nicht, daß ich etwas gegen Digital Audio habe - im Gegenteil, ich bin ein begeisterter Anhänger von Harddisk-Recording etc., doch das sind Werkzeuge, während ein Gitarrenamp Teil eines Musikinstrumentes ist.

Der gute Herr Reußenzehn (Röhrenmagier und Ampdoktor aus Deutschland, legendärer Marshall-Hotrodder) führt die Unterlegenheit (in einem Interview) darauf zurück, daß das Signal im Digitalamp mehrere hundert (kein Witz) Bearbeitungsstufen durchläuft, bei denen es viele nicht hörbare Verluste erleidet, die sich als dieses vage "Gefühl" bemerkbar machen, während es beim Röhrenamp weniger als zehn Stufen durchläuft, die nicht so viel Soundklau betreiben. Darüber mag man streiten, aber wenn man sich ein bißchen damit beschäftigt, wie Computer mit Zahlen umgehen, also Numerik betreiben, dann weiß man, daß der Computer nur eine beschränkte Rechengenauigkeit hat und bei jedem Rechenschritt kleine Rundungsfehler macht, die sich irgendwann aufaddieren. Dieses macht sich bei digitaler Klangbearbeitung irgendwann auch deutlich hörbar bemerkbar. Wer mehr über das ganze Thema nachlesen will, sollte sich die Seiten www.digido.com anschauen. Dort wird über die Handicaps der Digitaltechnik viel Fundiertes und Einleuchtendes gesagt.

Das ist meiner Meinung nach nur eine Seite der Medaille. Die andere ist psychologisch bedingt. Dazu muß ich jetzt ein bißchen weiter ausholen:

Es ist bestimmt schon mal aufgefallen, daß Gitarristen ein konservatives, traditionsverhaftetes Völkchen sind. Wirklich bahnbrechende Neuigkeiten technischer Art werden oft von der Mehrheit abgelehnt. Bassisten sind da irgendwie nicht so scheu: aktive Pickups sind in Bässen eher die Regel als die Ausnahme - auf dem Gitarrensektor sind sie fast komplett wieder verschwunden. Viele Bassisten spielen auf Instrumenten mit Kohlefaser-Hälsen oder auf solchen, die komplett aus Kunststoff-Materialen bestehen. Versuche, dies auch im Gitarrenbau auf breiter Basis einzuführen, darf man ruhig als gescheitert betrachten. Trotz der Überlegenheit der Materialien nimmt die "guitarific community" (wie "scientific community") dies nicht an. Warum das so ist, will ich hier nicht diskutieren, es trägt zu meiner Argumentation nichts bei.

Ich habe komplett aus "Plastik" bestehende Bässe in der Hand gehabt, die toll klangen - keine Dead Spots oder ähnliches, ein warmer, runder Ton - was will man mehr? Trotzdem muß eine Gitarre, damit ich sie kaufe, aus Holz sein. Warum?

Zuvor noch eine andere Frage: wann spiele ich als Gitarrist richtig gut? Ich meine, so gut, wie es mein Können und Talent zuläßt, so gut, daß ich damit in dem Moment glücklich und zufrieden bin? Klar, wenn ich ordentlich geübt habe usw. Aber außerdem muß ich auch mit meinem Instrument, mit dem Ton, mit dem Sound und dem Rest des Equipments (Amp, Effekte etc.) glücklich sein.

Wenn ich also weiß, daß in meinem Amp ein paar Röhren warm rot glühen, und ich mich deswegen gut fühle, dann werde ich sicherlich auch mit mehr Spaß spielen, als wenn ich erst die psychologische Hürde überspringen muß, die ein Digitalamp mit seinen "kalten" DSPs mit sich bringt. Neben den "quasi-objektiven", nur halb subjektiven Vorteilen der Röhren haben sie noch einen völlig subjektiven, rational nicht zu rechtfertigenden Vorteil: sie machen mich glücklicher. Genau deswegen muß eine Gitarre für mich auch aus Holz sein. Das hat keinen Grund außer dem, daß ich mich dann mit ihr (der Gitarre) besser fühle. Dann werde ich sicher auch besser spielen.
Das mag kein rationaler, logischer Grund sein, aber er ist sicher vernünftig. Spock würde ihn zwar nicht einsehen, aber er rockt auch nicht.

Ich habe nur die Befürchtung, daß eine Generation von Gitarristen kommen wird, die keine Röhrenamps mehr kennenlernt, weil die Industrie keine mehr herstellt - vielleicht werden ja auch die Röhren selbst irgendwann nicht mehr hergestellt. Und was man nicht kennt, kann man nicht vermissen: das befriedigende Gefühl, die alte Klampfe in einen Röhrenamp zu stöpseln, aufzudrehen, bis dieses bedeutungsschwangere Brummen gut zu hören ist, dann diesen simplen, offenen A-Dur-Akkord zu greifen, und ... BANG! geht die Sonne auf.

Also, wenn ihr in einen Gitarrenladen geht, um die Digitalamps auszuprobieren, wie ich oben gesagt habe, dann stellt mal einen der Röhrenamps, die diese Dinger simulieren wollen, daneben. Laßt euch nicht von den fehlenden Effekten oder dem scheinbar schlechteren Preis-Leistungsverhältnis abschrecken. Spielt das Ding. Macht den Direktvergleich. Für den direkten Ampvergleich sollte man auch auf eingebaute Effekte verzichten. Das wichtigste ist, daß der "trockene" Ampsound stimmt. Nehmt euch Zeit. Viel Zeit. Am besten, ihr probiert die Verstärker im Bandkontext aus - wenn es geht. Laßt euch nicht zu sehr von der Werbung beeinflussen: man braucht nicht jedem neuen Trend hinterherzulaufen. Und dann nehmt den Amp, der sich für euch besser anfühlt, der euch glücklicher macht.

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